16. Dezember 2021

Resilienz Resilienz

Zusammenhänge mit Vulnerabilität und Krise

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Thiemo Breyer und Jagna Brudzińska erörtern die Dimensionen des Resilienzphänomens durch die Verbindung desselben mit dem Konzept der Vulnerabilität, um auf diese Weise zu zeigen, dass Resilienz keine feststehende Fähigkeit, sondern ambivalenter und kontext-abhängig sei.

Ein Beitrag von Thiemo Breyer und Jagna Brudzińska

Nachdem um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert die Vulnerabilität des menschlichen Subjektes von der Philosophie und der Soziologie, von den feministischen Studien und der Theologie intensiv behandelt wurde, wendet sich das 21. Jahrhundert der Gegenfrage zu: der Frage nach der menschlichen Resilienz als Fähigkeit mit Krisen und Bedrohungen konstruktiv umzugehen. Wie ist die Philosophie bisher damit umgegangen und in welchen Traditionen können wir Konzepte und Instrumente finden, um sich diesem Problemfeld zu näheren? Die Autor*innen explorieren unterschiedliche Zugänge zu dem Thema: einerseits die Phänomenologie und die Existenzphilosophie und andererseits die analytische Philosophie werden auf die Probe gestellt und zur Diskussion aufgefordert. Das Resilienzphänomen, mit seiner Komplexität und Diffusivität, erweist sich dabei nicht nur als dringende Frage unserer Zeit, sondern auch als vielversprechender Boden für die Begegnung und fruchtbare Interaktion zwischen unterschiedlichen philosophischen Richtungen.

Um die verschiedenen Dimensionen der Resilienz zu erörtern, gehen die Autor*innen von einer grundlegenden anthropologischen Annahme aus: der strukturellen Verletzlichkeit des Menschen. Die Zerbrechlichkeit des Menschen fordert eine vielseitige Analyse, die die verschiedenen Dimensionen der Körperlichkeit, aber auch der sozialen und relationalen Bedürfnisse, der psychologischen Stabilität und der geistigen Entwicklung des Menschen berücksichtigt. Diese Pluralität und Dynamik des Verletzlichkeitsphänomens impliziert jedoch, dass jenes nicht nur in rationalen, prädikativen und repräsentativen Formen des Wissens entfaltet wird. Um die Verwundbarkeit in ihrer ganzen Bedeutsamkeit zu betrachten, muss die Philosophie vielmehr ebenso in die vorprädikativen und passiv-assoziativen Dimensionen der Erfahrung hineinblicken. Anziehung und Abstoßung, Faszination und Abscheu, Begeisterung und Angst erscheinen so als prägende Manifestationen unserer eigentümlichen Art, in der Welt verletzlich zu sein. All diese vorreflexiven Prozesse werden im Wesentlichen leiblich gelebt und finden leiblichen Ausdruck, bevor sie in Gedanken gefasst werden können.

Die Autor*innen beschränken sich jedoch nicht darauf, über die grundlegende und strukturelle Verletzlichkeit des Menschen nachzudenken. Vielmehr konzentrieren sie sich auf den Moment der akutesten, störendsten und destabilisierendsten Manifestation der Verletzlichkeit selbst: die Erfahrung der Krise.

Das Verb krinein bedeutet "trennen", "unterscheiden" und "entscheiden". In den Bereichen der antiken Medizin und des Militärs bezeichnete Krise eine Situation, in der der Ausgang (einer Krankheit oder einer Schlacht) entschieden wird. Die Erfahrung der Krise bringt also den Aspekt der Verletzlichkeit zum Vorschein, hinter dem sich die Notwendigkeit einer Entscheidung, einer Stellungnahme, einer individuellen Wende verbirgt.

Das Konzept der "Krise" wird unter Bezugnahme auf zwei Denker des 20. Jahrhunderts diskutiert, die ihre erkenntnistheoretischen und existenziellen Aspekte hervorgehoben haben ­– Edmund Husserl in ‚Die Krise der europäischen Wissenschaften‘ und Karl Jaspers in seiner Existenzphilosophie. Jaspers' Lehre erweist sich dabei als besonders vielversprechend, wenn es um die Erforschung des Resilienzphänomens geht. Nach Jaspers führt nicht das Wegdenken der Krise und des Konfliktes aus der menschlichen Erfahrung zur Sinnhaftigkeit und Erfüllung im menschlichen Dasein. Im Gegenteil, gerade durch die Krise hindurch gehend und dadurch die eigene Verletzlichkeit annehmend, bahnt das Individuum sich den Weg der Sinnerfüllung und offenbart eine authentische Resilienz. Zwar finden wir im Jaspers’ Werk nicht das Wort Resilienz, doch seine kompromisslose Auseinandersetzung mit den existentiellen Grenzsituationen bietet ein bedeutendes Modell für die Auffassung der menschlichen Widerstandskraft, die sich nicht durch das sich Lossprechen vom Leid und Verwundbarkeit behauptet, sondern diese als conditio humana anzunehmen lehrt. Nur so sind das Wachstum, die Transformation und die Erfüllung existentieller Möglichkeiten denkbar.

Um die transformativen Möglichkeiten zu erforschen, die für das Phänomen der Resilienz wesentlich sind, befragen die Autor*innen im zweiten Teil des Beitrags sowohl die von der analytischen Philosophie vorgeschlagenen begrifflichen Unterscheidungen als auch die von der Phänomenologie gelieferten Beschreibungen der Erfahrung. Hier taucht das Konzept der Resonanz auf, das eine Verbindung zwischen dem Zustand der Verwundbarkeit und dem menschlichen Potenzial der Resilienz herstellt.

Resilienz wird gerade dann notwendig, wenn die Resonanz, verstanden als die Fähigkeit, auf die Umwelt zu reagieren, durch Krisen gestört oder unterbrochen wird. Dieser Zusammenhang wird erforscht in den leiblichen, affektiven und kognitiven Sphären des psychischen Lebens. Hier verbindet sich das Phänomen der Resilienz mit dem der Empathie und der Einfühlung, die unter anderem als eine positive Emotion verstanden werden, die in den komplexen Prozessen der resilienten Transformation genutzt werden können. Es wird deutlich, dass die Resilienz nicht nur ein individuelles Phänomen sein kann, sondern notwendigerweise eine intersubjektive Dimension des Dialogs und des Perspektivenaustauschs beinhaltet.

Heuristisch lassen sich mehrere Ebenen des Selbst (verkörpertes, interpersonales und narratives Selbst) und mehrere Modi der Bezugnahme dieses Selbst auf die soziale und ökologische Umwelt (leiblich, affektiv und kognitiv) unterscheiden. Es zeigt sich somit, dass Resilienz weniger eine feststehende Eigenschaft oder Fähigkeit zur Krisenbewältigung ist, sondern von Potenzialen der Anpassung, Transformation und Resonanz mit der Situation im Durchleben einer Krise ausgeht. Resilienz als ambivalentes Phänomen, das nur in der Interaktion mit konkreten Krisen adäquat untersucht und konzeptualisiert werden kann, beinhaltet immer auch ein Element der Aushandlung - mit sich selbst und mit anderen.

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